Wie verlorene Kinder

Gestern habe ich sie wieder gesehen.
Sie wirkten etwas weniger überraschend als beim ersten Mal – gleichwohl doch noch überraschender, da sie wieder gemeinsam „ausgingen“.
Abends beim Spanier waren sie mir aufgefallen. Zwei kleine, junge, blasse Menschen. Sie wirkten irgendwie zu jung, zu kindlich besser gesagt, um hier die Platten auffahren zu lassen.
Wie jung sie wirklich sind, fiel mir allerdings schwer, einzuschätzen. Sie ist unglaublich klein, hat ein ernstes Gesicht und einen Haarschnitt, der vom Friseur kommt und irgendwie an die Weimarer Republik erinnert. Resolut betrat sie das Lokal und bahnte den Weg zum einzigen freien Tisch, eine übergroße Handtasche schien ihr der Schieber, der ihr diesen Weg freilegte. Ihr Alter zu schätzen fiel mir außerordentlich schwer. Zwischen 18, für das einiges sprach und 30, denn sie hatte ein dreißigjähriges Gesicht an diesem Abend, so voll angestrengter Verantwortung.
In anderer Begleitung hätte sie wohl kaum sehr irritiert. Aber der Junge, der hinter ihr lief, wirkte, wie heute kaum mehr einer wirkt. Kindlich, schüchtern – und irgendwie arm. Gekleidet, wie keiner heute mehr rumläuft. Frühe Achtziger vielleicht, aber auch da hätte die Mutter, eine früh gealterte, diese Klamotten gekauft, und der Knabe hätte Zuhause gewohnt und die elfte Klasse besucht. Ein sehr enges Sweat-Shirt am mageren Körper, in einem verwaschenen Blaulila-Ton. Schlabbrige Jeans, von unprätentiöser Weite, nicht so wie es heute cool ist. Und Locken, die lange keinen Haarschnitt mehr gesehen hatten und so ins Gesicht fielen, wie auf 70erJahreFotos vielleicht noch eher. Die Locken so blass wie das ganze Kerlchen, das einen frühen krummen Gang hatte.
Ich konnte mir keinen Reim machen, ihre Gesichter voll großer Ähnlichkeit. Am ehesten sie die große Schwester – oder doch die Mutter, fragte ich mich kurz –; wären es Geschwister hätte ich ihnen dennoch ein großes Drama angedichtet. So verloren wirkten sie in der Welt, und doch, vor allem sie, als müsse man nun lernen, sich darin zu bewegen. Als seien sie von einem Schiff gestiegen, von weit her, mit ein wenig Geld in der Tasche, vom reichen Onkel, um nun ihr Glück zu machen. Glück? Welches Glück? Außerdem gibt es in Frankfurt keinen Hafen hin zum Ozean, und die Geschichte ist reichlich unwahrscheinlich.
Gestern im Straßencafé schienen sie gleichaltriger. Saßen da, sprachen nicht, er hing auf seinem Stuhl, das gleiche Sweat-Shirt am Leib. Ihre übergroße Tasche trohnte auf dem Stuhl neben ihr. Die Mutter-Theorie zerstob. Eine andere war nicht in Sicht.
Umweht die beiden von einer ganz seltsamen Unnahbarkeit, als säßen sie in einer anderen Welt. Unansprechbar. Als könnte man sie am ehesten in einem Film unterbringen, der aber in Paris spielen müsste.

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